Harald Jegodzienski
Datscha

Riga
2003

Sie ist geradezu unwirklich, die Stille zwischen den Bewegungen. Kein vor und zurück bei gleichzeitigem Hier- und Jetztsein. Eine besondere Wirklichkeit also, diese Ruhe zu erfahren in der Mitte - einer mächtigen Ostseefähre. Mein Körper ist gezwungen, zu verharren, - ein körperlicher Stillstand stellt sich ein. Und indem man die Vergangenheit hinter sich ließ und die Zukunft in der Gischt am Horizont kommender Ereignisse nicht auszumachen ist, bahnt sich ein besonderes Phänomen an: Gleich einem mächtigen, ruhig dahingleitendem Strom, ziehen wie Schwemmhölzer die Gedanken an mir vorbei, die in der Verknüpfung und Bildschnittfolge nicht abenteuerlicher hätten sein können. Hier und jetzt ist alles eins und gleichgültig. Projekte, Sorgen, Vergangenheit und Einschätzungen erhalten keine Bewertung und Akzentuierung, erfahren keine Gewichtung. Gedankenfetzen und -schnipsel flattern über sorgenvolle Abwägungen und zukünftige Überlegungen, Gedankenstränge loten temporär die Stromtiefe aus, jederzeit bereit, auch die Uferböschungen einiger Gedanken abzugrasen, das angeschwemmte Treibholz auf sein Profil hin abzuklopfen. Das bedächtige Heben und Senken des großen Schiffes unterstützt rhythmisch das Szenenbild des Denkdurchflusses.

Es wird bestimmt eine heftige Reaktion der Zollbeamten hervorrufen. Entweder ein Lächeln oder gar Lachen wird die Szenerie bestimmen, oder mir wird ein mürrisches Misstrauen entgegenschlagen. Zu ungeheuerlich erscheint das, was jetzt vom Novemberwetter durchgeschüttelt und in gut zwei Tagen von Bord gefahren wird: Auf der Dachreling meines Wagens ist gut vertäut das Surfbrett samt Gabelbaum und Mast, an der Anhängerkupplung ein mächtiger Wohnwagen. Nach Angaben der Schifffahrtsgesellschaft ein Gespann von 11 Metern. Farben-fröhlichkeit trotzt dabei dem Novembergrau, Sommer-Vorstellungen erwärmen lächelnd die kalte Gischt, die über das Deck fegt.

Die Maßnahme, so ausgerüstet Lettland erreichen zu wollen, entspricht meiner Vorsorge. Die dafür ursprüngliche und für diese Aktion auslösende Sorge meiner Frau Valda und Tochter trug mich durch das Frühjahr und den Sommer. „Wir brauchen eine Datscha!" Man müsste diese Aussage fett drucken, mehrere Ausrufungszeichen dahinter stellen und sie stets wiederholen, um einen kleinen Eindruck ihres gemeinsamen Verlangens zu erhalten. Diese Aussage hing wie ein Damoklesschwert über jedem wolkenlosen Tag, so dass ich mir nichts sehnlichster wünschte, als ruhige, regenverhangene Tage. Wenn jedoch das Schlimmste eines wunderschönen Tages eintrat, wurden alle Fenster aufgerissen und ebenso gehalten. Rund um die Uhr wurde die Wohnung mit Frischluft versorgt, um so doch wenigstens dem sicheren Erstickungstod in der Stadt zu entrinnen. Der Biergarten im nahegelegenen Stadtpark wurde als unzureichende Alternative ausgeschlagen. Mit unruhigem Geist und stierigem Blick, beratschlagten Frau und Tochter an solchen „Datscha-Tagen", welcher Strandabschnitt nun als Arbeits- und Tagungsstätte heute auszuwählen und mit welcher organisatorischen Strategie dies zu erreichen wäre. Projekte wurden dabei ohne Rücksicht auf Terminbedrängnis eiskalt auf die lange Bank geschoben, mit der Maßgabe, auf schlechtes Wetter warten zu wollen.

Erinnerungen an Erdgeruch beim Buddeln in den Garten-Rabatten meiner Großeltern und den Umgang mit ihrem Schrebergarten wurden wachgerufen. Der morgendliche Gruß zum Himmel entschied über ihren einstündigen Gang zu ihrem Refugium im Grünen oder zum Verbleib in der Stadtwohnung. Ihr Garten war ein Ort des Arbeitens, Initiierens, Erntens, Ordnens und Zentriertseins. Auch wenn es regnete, der Lebensmittelpunkt „Garten" bedeutete auch in ihren vier Steinwänden in der Stadt Folgearbeiten oder Vorbereitungen. Es wurde eingekocht, die Samentütchen wurden auf Verfallsdaten hin begutachtet, die Gaben ihrer Arbeit wurden in Behältnissen für Geschenke an die Verwandtschaft präpariert. Welche Blumen sollten welchen Raum schmücken usw.? - Nicht nur die allabendlichen Wetternachrichten standen im Mittelpunkt ihres Nachrichtenbegehrens, sondern beide standen aktiv in den Gezeiten eines jeden Jahres. Mittlerweile schon geehrt und ausgezeichnet mit einer goldenen Spange für ihre 50ig-jährigen Aktivitäten und Zugehörigkeit zur großen Schrebergartengemeinde.

Zwei markante Pole steckten das Terrain des kleinen, langgezogenen Gartens ab: Begrüßt wurde man am Zauntor vom üppigen Füllhorn eines Rosenstraußes, am Kopfende versteckte sich eine Holzhütte unter einem riesigen Pflaumenbaum. Im Schuppenzentrum füllten ein kleiner Stuhl und Tisch praktisch zur Gänze den Raum, umfächert von langstieligem Werkzeug in Dreierreihe und an zwei krumm geklopften Nägeln die Arbeitskleidung. Die Restfläche der Wände wurde vom kurzstieligem Gerät verhängt. Von der Decke baumelten neben riesigen Bast- und Bindfadenbündel getrocknete Kräuter. Die Doppelseite einer Zeitung bedeckte das Tischchen, auf den stets die dicken, farbigen Saubohnen zu trocknen schienen; der Geruch einer Mischung aus staubtrockener Erde und Kartoffeln prägte den dunklen Raum. Die Stuhlsitzfläche stellte das einzige, unbesetzte Areal dieses Raumes dar und diente zum Verweilen bei einem überraschenden Regenschauer.

Das Verlangen, „außen" in der Natur zu sein, erhält in Lettland andere Facetten und Ausprägungen, als in Deutschland. Ähnlich wie bei meinen Großeltern, wird auch die Ernte in die Stadt eingefahren. Zur Feierabendszeit strömt z.B. eine Heerschar von Menschen aus den Vorortzügen, die in emaillierten Eimern, Plastiktüten, Körben, Rucksäcken und Ähnlichem ihre Gartenausbeute nach Hause tragen. Der Gartenbegriff wird hier zudem auf Wälder und Wiesen ausgedehnt, so dass sich in ihren Behältnissen eine Mannigfaltigkeit an Früchten entdecken lässt. Man braucht dabei nicht unter die Verpackungen zu schielen, sondern muss lediglich über die verschiedenen Regionalmärkte schlendern, um das heimische Ernte-Angebot studieren zu können. Die Ernte dient nämlich nicht nur zum eigenen Verzehr, sondern die Gartenbesitzer können damit auch ihr kärgliches Einkommen aufbessern. Soweit zum lettischen Gartenleben in der Sommerzeit.

Eine Datscha jedoch ist in Lettland kein Geräteschuppen. Hier braucht man Raum, um mit seinen zahlreichen Freunden gemeinsam das Außengefühl zu befeiern und die viermonatigen Sommerferien hier zu verbringen. Das heißt, es bedarf eines richtigen Hauses mit vielen Schlafplätzen und … einem Ofen. Im Winter nämlich gibt es auch wenigstens einen triftigen Grund, auf die Datscha sich zurückzuziehen: Novemberzeit ist Vernissagezeit vieler Kunstausstellungen. Nicht aber die Kunst ist dabei das vorherrschende Gesprächsthema, sondern die alles durchdringende Kälte und Klammheit in den Rigenser Wohnungen. Die Kommunal-heizung springt nämlich erst, - und das exakt -, am Gefrierpunkt an. So flüchtet man kollektiv auf die Datschen, um sich am Holzfeuer an Leib und Seele erwärmen zu können. So besitzt die Datscha die wärmende Seele einer Heimat, ist geprägt vom Lachen und Sinnieren mit Freunden, dem Geruch von Erde und beruhigendem Farben der Natur. Es gibt so gesehen für die Letten zwei Lebensmittelpunkte: Die Stadtwohnung als Kommandozentrale für die tägliche Arbeitsverrichtung, die Datscha als warmen Bauch und Ort, an dem man fernab aller Hektik sich selbst spüren kann.

Es ist schon verwunderlich oder doch überraschend, dass Radio-Kulturprogrammsendungen am Vormittag genossen werden. Jedenfalls von einer solchen in Deutschland ist dies verbrieft, da viele unserer Freunde erregt anriefen, dass sie ohne Vorwarnungen, - einfach nur so -, Valda im Radio während eines Interviews im Deutschlandfunk gehört hätten. … Ein Datschaerlebnis ging „natürlich" diesem Ereignis voraus.

Höhepunkt aller Sommererlebnisse, sozusagen der höchste Feiertag aller Datschen, wird am 23. Juni während der Sommersonnwende ausgiebig gefeiert. Riga ist dann quasi menschenleer, dagegen bersten die Datschen vor Frohsinn, Tradition und ihren, aus der Stadt geflohenen Sonnenanbetern. Auch der deutsche Stammtisch von Riga reihte sich in den lettischen Brauch mit ein, an diesem Tag eichenlaubbekränzt nächtens über die Feuer zu springen, im Wettstreit zu singen, rund herum es sich gut ergehen zu lassen. Zu Bett gehen bedeutet an jedem Johannisfest, nach der Jahres kürzesten Nacht, Morgen und Sonne mit einem kräftigen Schluck Bier zu begrüßen.

Natürlich waren nicht nur die Mitglieder der deutschen Community zugegen, sondern auch alle zufällig zugereisten oder eingeladenen Bekannten und Freunde. So auch eine Berliner Journalistin, die ein Feature über dieses Land zusammenzustellen hatte, das sich zu der Zeit anschickte, für die europäische Gemeinschaft ihr Votum abzugeben. Was ist das also für ein Land? Es mussten nämlich grund-sätzliche Fragen beantwortet werden, da erst ab 1991 Lettland sich durch seine Unabhängigkeit im Bewusstsein von Westeuropa verankern durfte: Hat Lettland eine eigene Sprache, seine eigene Währung, wie sieht es mit den Minderheiten aus, wo liegt eigentlich dieses kleine Land? So stieß die Journalistin bei ihren Recherchen auch auf eine kleine Mitteilung im Reiseführer, da sei eine Datscha im Urwald von Lettland zu finden, in dem sich in den 70iger Jahren junge Leute ihre lettische Identität erbauten, so dass sie sogar vom KGB observiert wurden.

Valda ist die Letztverbliebene einer siebenköpfigen Gruppe dieser Initiative, die noch in Lettland bodenständig ist. Alle anderen Mitstreiter und damit die Vision einer gemeinsamen Zukunft in Lettland sind in alle Winde an die entlegensten Ecken der Welt geweht worden. Natürlich begünstigt durch die Unabhängigkeit und damit Öffnung Lettlands. So war das Staunen beider Gesprächspartnerinnen riesengroß, hier abseits vom regen Treiben und Geschäftigkeit, die Geschichte authentisch von der noch verbliebenen Protagonistin dieses Projekts erzählt zu bekommen und andererseits sie erzählen zu dürfen. Und das just in einer Zeit, wo genau diese Geschichte in mehreren Gazetten Lettlands zum ersten Mal aufgefächert wurde.

Generell geht die Angst der Letten um, die Heimaterde an Ausländer auszuverkaufen oder anders geschrieben: Erde ist das Letzte im Leben, was man veräußern sollte, zumal sie eine lettische ist. So stand Valda vor einer schrecklichen Entscheidung, nämlich das Urwald-Anwesen samt Datscha an einen Priester für einen Symbolbetrag von 200 Dollar zu verkaufen, oder den Urwald genau um dieses Areal zu vergrößern. Abseits von Riga, ohne Straßenanbindung, Strom und Wasser war es für uns nicht möglich, Sorge für die Unterhaltung zu hegen. Zu allem Überfluss kam dann die Kunde aus dem fernen San Francisco vom Initiator der Gruppe viel zu spät, die Valdas Qualen in das Unendliche strapazierten: Lieber solle alles zusammenbrechen, anstatt das Anwesen zu verkaufen. Sie aber entschied sich für das Konstruktive, dass andere Menschen diese Datscha am Leben erhalten und füllen sollten. Übriggeblieben ist ihr abgrundtief schlechtes Gewissen dabei. So waren die Interviews, einmal von der lettischen zumanderen von der deutschen Seite, eine Aufarbeitung ihrer bedrückenden Gefühle und entsprach einer besonderen Wundbehandlung.

Zur Zeit gebärdet sich der „wilde Osten" in seiner Aufbruchstimmung mit geschäftigen Rumoren. So wird der Ostsee-Strandgürtel systematisch aufgekauft, um die Grundstücke in ein paar Jahren zu „europäischen Preisen" gewinnbringend veräußern zu können. Mit der Ausnahme …. eines kleinen gemieteten Wiesengrundstücks: Am Eingang ein Rosenbusch, am Kopfende drei verwilderte Pflaumenbäume. In ihren Schatten soll im Frühjahr ein Wohnwagen seine Datschen-Heimstatt finden.

Die Gischt klart am Horizont auf und wenig später steigt Riga verhalten aus dem Novembergrau, zeichnet mit seinen Kranauslegern im Hafen einen Willkommensgruß in den verhangenen Himmel. Ich freue mich auf die Augen von Valda und ... auf den Sommer