Harald Jegodzienski
Fußball

2003

Goldene Abendmilch

Um der Blutleere von Einsamkeit zu entfliehen,
reihe ich mich
in die wogenden Kopfwolken einer Kneipe ein.

Wo das Lachen im Rauchatem
wollüstig zu schwimmen scheint,
ertrinkt man gern in den Gedanken anderer,
freut sich,
wenn man die schweren Plüschgardinen vor verschlagenen Reimen
zu heben in der Lage ist
und schlürft mit Insektenaugen wonniglich sein Umfeld.

Einiges muss ich vorausschicken:

* Vor drei Tagen verfasste ich das kleine Gedankennest über meine Lieblingskneipe
in Riga.
* Vor zwei Tagen feierte Lettland seine erste Unabhängigkeit vor 85 Jahren.
* Heute schaltete die lettische Fußball-Nationalmannschaft die türkische aus
dem Qualifikationsrennen um die Teilnahme an der Europameisterschaft im
nächsten Jahr aus.
* Die Letten sind eine sangesfreudige Nation.
* Die Letten sind sehr nationalbewusst und stolz auf ihr Land.
* Die Entfernung „meiner“ Kneipe übersteigt kaum mehr als 200 m, so dass ich sie    
kurz nach dem Fußballspiel  erreichen konnte. Dass ich erst jetzt das Glück  
habe, die Szene zu betreten, liegt am Totalkollaps meines Computers begründet,
der mit meinem beinahe einherging. Das Glück ist mir hold, da der     
Nachhauseweg eines Computerfachmanns an unserem Haus vorbeiführte. Mit
dem Schlusspfiff ist auch mein Arbeitsgerät wieder wohlauf.

   In der Kneipe haben sich die Gemüter schon wieder beruhigt, die Musik ist etwas lauter als sonst, um der besonderen Stimmung eines historischen Sieges Rechnung zu tragen. 120 Menschen sind auf eine große Leinwand ausgerichtet, die eigens für die Übertragung des Spieles aufgebaut worden war; es laufen Wetternachrichten, anschließend Werbung. Neben der Leinwand ist eine große lettische Fahne positioniert. Fünf Menschen sind über 50 Jahre alt, das Alter der restlichen 115 wird von mir um die 30 angesetzt. 60% sind Jacketträger, 30% Rollkragenbesitzer, die restlichen Besucher sind nicht uniformiert.

   Die Leinwand-Show ist nun passe?, - nun folgt die eigentliche Vorführung:

   Eine kleine Gruppe hebt das lettische Lied an, in dem der Nationalname in jeder Strophe mehrmals hervorgehoben wird. Kaum ist die Nationalhymne in seinen Anfängen angestimmt, erheben sich wie von selbst,  a l l e  Kneipenbesucher und singen donnernd alle Strophen mit. Selbst die irischen Botschaftsangehörigen recken dabei die Hände in die Höhe. Nach einer Viertelstunde werden, in immer kürzeren Abständen, verschiedene Lieder gesungen – kräftig und unisono. Gegen Mitternacht schwingt sich dann einer der vielen Handy-Besitzer auf den Tresen und liest der Kneipen-Gemeinde von seinem Display die offizielle Nachricht vor, dass zum ersten Mal dieses baltische Land an einem so großen Turnier teilnehmen kann und sogar damit dem großen Deutschland verholfen hatte, in der Länderrangliste ein paar Punkte gut zu machen. Mit dem lettischen Sieg kommt Deutschland in einen besseren Lostopf für die Europameisterschaft.

Jede Gruppe, die nun die Kneipe verlässt, wird anständig mit einem donnernden Lied speziell verabschiedet. Keiner kennt sich, sie sind „nur“ eine lettische Kneipengemeinschaft auf Fussballzeit gewesen.

Eine Woche später rief mich Jakob, dpa-Korrespondent für das Baltikum aus Vilnius (Litauen) an, Lettland und Deutschland seien in ein und dieselbe Gruppe gelost. Es fällt nicht schwer, an einem grauen, nass-kalten Novembertag, sich den Spiel-Termin im Juni, eingepackt in Portugals Wärme, im Kalender vorzumerken