Harald Jegodzienski
Licht

Riga
1995

9.9.95 - 21.oo Uhr
Balkon, 1. Etage, in der Hauptstadt

Zwölf Etagen hohe Plattenfassaden schachteln die Liebespaare, Hundeausgehführer, rauchende Teenager, torkelnde Schnapsleichen auf der Kinderspielplatzarena ein. Diese Lebensfläche wird umrahmt, durchschnitten von Wegen und Strassen, mit der Qualität eines Verkehrsübungsplatzes - im Zentrum der ausgetrocknete, obligatorische, anheimelnd versuchende Monumentalbrunnen. Das Gemurmel, das auf- und abschwellende Lachen der Jugendgangs, wird akustisch gekreuzt durch die Brandung des Verkehrs auf der vierspurigen Ausfallstrasse dieser Stadt.


10.9.95 - 21.oo Uhr
Eingangsstufe des Holzhauses, im
Urwald


Der Vollmond federt auf den Tannenspitzen, setzt zum großen Sprung durch die Nacht an. Das gegenüberliegende sterbende Blut-Orange der Sonne kämpft vergeblich gegen das Dunkel. Sterne perforieren das Schwarz zwischen den leuchtenden Polen.
Der Blick schweift herunter auf das erdige Ich, - inmitten des vom Schlaglicht des Mondes schraffierten, aufsteigenden Nebels. Es wird als ein Rückzug empfunden, in das wettersilbrige Holzblockhaus zu gehen und damit Licht und Wärme zu suchen. Selbst der Schein von sieben Kerzen in der rußgeschwärzten Wohnküche jedoch erscheint lächerlich und höhnend. Die kalt-neblige Stille flüstert Dir das Gedicht der Einsamkeit, der fehlende Lichtstrom lässt Hände nur sehen.
Erst die Aneignung des absoluten, verfügbaren Lichts erhebt uns Menschen scheinbar auf die Stufe der Götter …

11.9.95 - 21.oo Uhr
Balkon, 1. Etage, in der Hauptstadt

Zwölf Etagen hohe Plattenfassaden, eine Anmut, wie übergroße, vorweihnachtliche Adventskalender. Sie geben alle Farben der warmen Lichtpalette preis, gesteigert durch die flimmernde Kühle der Fernsehgeräte. An hohen Peitschenlampen, mit ihrem gleißend weißen Licht, scheinen die Fronten geheftet. Die eingekesselte Landschaft ist in eine fahle Beleuchtung getaucht. Scharfe Schattenbahnen durchkreuzen den Platz, auf dem wandernde Positionsfeuer glimmender Zigaretten die Wegführung der Menschen kennzeichnen. Die Sonnen, die roten Sterne der Automobile, tanzen über dem regennassen Asphalt. Lanzenförmige Lichtreflexe scheinen die warmen Fenster der flankierenden Häuser attackieren zu wollen. Das schwebende Schwarz der Wolken zerfleddert den abnehmenden Mond