Harald Jegodzienski
Ostergeschichte

Riga
1997

Die Märzsonne lädt mich zum ersten Mal in diesem Jahr in das Straßencafé ein. Das bedeutet „Einkehr" inmitten des Stroms emsiger Betriebsamkeit. Aber die Gelassenheit will sich nicht so recht einstellen, denn mein Herztakt akzentuiert den Gedankensprudel, der meine bevorstehende Reise nach Riga auslöst. Die 20-Grad-Frühlings-Schallmauer ist durchbrochen. Doch scheinen diese aufgefangenen Sonnenstrahlen nicht auszureichen, dem vom Baltikum heranbrausender Winterwetter-Unbill und dem damit einsetzenden Fröstel-Gefühl zu trotzen.

So halte ich den zarten Baumgrün-Flaum Frankfurts fest in meinem Gedächtnis und schaukele in einem dicht besetzten Bus mit diesen hellen Erinnerung 34 Stunden durch das nach-winterlich geschleierte Schmutzgrau dem besagten Baltikum-Tief entgegen. Die von den Ausdünstungen der Passagiere beschlagenen Busscheiben werden in der Nacht einerseits von innen vom laufenden James-Bond-Film bläulich-flimmernd, andererseits von außen vom Fast-Vollmond kaltfarblich beschienen. Handrakel zeichnen dunkele Bahnen in das Silbergrau dieser Scheiben, um durch diese den Jahrhundert-Kometen „Haley-Bopp" erblicken zu wollen. Erst ein paar Tage später werden Mond im vollendeten Kreisrund und der Kometenschweif im eisigen Riga zu bestaunen sein, sofern der Blick auf beide nicht verwehrt wird. Denn die Sonne vergrub sich am Ankunftstag hinter einer dicken Wolkendecke, die über Nacht die Stadtlandschaft in ein kompaktes Schneeweiß gehüllt hatte und am Morgen die farblosen Gebäude besonders grau erscheinen ließ.

Ich sitze im warmen Kaufhaus „Minska" am „stillen Freitag", wie man diesen besonderen Ostertag in Lettland bezeichnet. Doch ganz so still geht es an diesem Ort wirklich nicht zu. Der visuell notdürftig abgetrennte Kaffeehausbezirk wird mit russischen Schlagern laut vom benachbarten Verkaufsstand aus berieselt. Diese Zone hat es verdient, näher beschrieben zu werden: Ein verzehrter großer Teppich umschreibt und definiert, ohne jegliche architektonische Einbindung, diesen gastlichen Ort in einem großen Hallenraum. Somit trennt sich diese Zone mit diesem abgewetzten Signal des Behaglichen vom üblichen Kaufhausgeschehen ab. Entsprechend der Grenze dieses Teppich-Gevierts wird die dritte Dimension durch rosafarbene, staksige und durch Ausstanzungen verzierte Blechbehältnisse als Platzmarkierungen erhoben, in denen die im Vorbeigehen abgeknickten oder gerupften kleinbürgerlichen Zimmerpflanzen ein Psychogramm von besonderer Anheimelung bilden. Dieser Eindruck von gestörter, ungestalter Natur wird im langsamen Rundblick der so begrenzten Kaffee-Arena jäh gegenfarblich von zwei alten Feuerlöschern gehalten. Das von diesen Geräte-Veteranen erhobene Rot setzt sich in unmittelbarer Nachbarschaft in dem polsterbeschlagenen Bartresen fort. Vor den großen Schaufenstern, wo am ehesten Blumen mit Licht versorgt werden könnten, werden Plastikblumen in barock-anmutenden, üppigen Plastikbehältnissen im kunstvoll-aufwendigen Messinggestänge selbstbewusst gehalten.

Ein Möbelstück kann auch ohne Gebrauchsabsicht ein visuelles Gedicht darstellen. Doch erst der Gebrauch adelt einen Möbel-Gegenstand. Der nun in das Auge gefasste und eben aufgeführte Kunstleder-gepolsterte rote Tresen in „Minska" ist von hohem Adel. Sein Gebrauch provoziert jedoch den allzu alltäglichen Vergleich mit einer Tankstelle. Um die nächsten Schritte klar gestalten zu können, müssen die Menschen tanken: Im flüchtigen Vorbeigehen oder Stehen wird ein Wasserglas voll Feuerwasser zu sich genommen. Öfters ertappe ich mich bei dem Gedanken, die Frauen hinter dem Tresen müssten doch ihre mütterlichen Regungen irgend einmal zeigen, einschreiten, um wenigstens die Rentner und Jugendlichen vor dem übermäßigen Genuss von Alkohol zu warnen. Nein, - alles regt sich gefühllos ruhig und selbstverständlich, - nicht genussvoll und auch nicht heimlich. Man benötigt eben diese Tankstelle für die Funktionalität des eigenen Körpers und verfährt dementsprechend ohne sichtbare Emotionen. Und ähnlich bei einer Tankstelle, steht man in einer Warteschlange, um an den begehrten Zapfhahn zu gelangen, und verlässt ebenso selbstverständlich sogleich den Ort, um den Nachfolgenden nicht den Zugang durch unangemessene Staus zu verwehren.

Über mir streiten, nein stritten, Dunkelheit und Licht um die Vorherrschaft, die zu Gunsten der Dunkelheit entschieden wurde. Der in Kantenprofil-Streifen gehaltene Kaufhaus-Himmel besteht alternierend aus Aluminium- und Leuchtstoffröhrenabdeckungen. Von den funktionierenden Leuchtkörpern ist allerdings mittlerweile nicht mehr viel zu sehen, da der Großteil der Lichtquellen ausgefallen ist. Unwillkürlich fragt man sich, welche Melodie dieses visuelle Angebot von Licht und Dunkelheit, kalter und warmer Restbeleuchtung wohl dem imaginären Zuhörer offerieren würde, käme dieser Stakkato-Rhythmus zur Klangaufführung. Die einstmals im sozialistischem Glanz erstrahlte Inneneinrichtung wird seit gestern in Teilen abgebaut. Die letzten Reste der naiv und daher als liebenswert zu nennenden Ausstrahlung der sozialistischen Konsum-Verpackung wird dem durchrechnenden Angebotsprinzip des Westens in sehr naher Zukunft anheimfallen.

Am Karfreitag ist die Schlange der Anbieter nützlicher Gegenstände besonders lang. Sie reicht von „Minska" vorbei an der nächsten Bushaltestelle bis hin zum Regionalmarkt. Zwischen den Flanken spalierstehender Anbieter, muss man eine sehr vorausschauende Strategie entwickeln, um trockenen Fußes durch die Pfützenlandschaft des Weges zum Eingangsbereich des Marktes zu gelangen. Einsetzendes Tauwetter lässt Weg und Feilgebotenes besonders traurig wirken. Hier erregen neben ärmlichen Habseligkeiten, die angebotenen Strumpfhosen aufgrund ihrer Markenbezeichnungen „Marika" und „Marilyn" meine besondere Aufmerksamkeit. Ebenso ein in der Verknüpfung spannendes Bauchladen-Angebot: Im rechten Flügel des Verkaufs-Klappaltars werden Ikonen für das bevorstehende orthodox-österliche Ereignis feilgeboten, auf der anderen Klappseite verschiedene Sexführer durch die Hauptstadt Riga zum Verkauf bereitgestellt. Bei diesen Beobachtungen wurden Erinnerungen wach, die für mich vor genau einem Jahr in New York geprägt wurden: Zwei scheinbar aus einer Filmkomödie entsprungene Mensch-Hasen, die an der Flügeltür eines Hotels am Karfreitag ihr possierliches Spiel mit den Passanten trieben, zeugten als einzigen Hinweis in dieser Metropole von einem möglichen Osterfest. Zum selben Anlass, nur ein Jahr später, gemahnt hier in Riga ein übergroßes, glucksendes Pappmascheehuhn an Ostern, das auf einem Wagen, ähnlich wie zur Karnevalszeit auf einem geschmückten Landwirtschaftswagen vor dem größten Hotel Rigas, die österlichen Insignien ausstrahlt. Schlicht ist die Feststellung formuliert, dass es sich um einen ganz normalen Arbeitstag handelt. Man könnte denken, der Kommerz siegt über das Osterfest. Doch zur Unterstützung dieser Annahme fehlt der im Westen so gepflegte Tanz und Rummel um das goldene Osterlamm, das ja kräftig auszuschlachten wäre. Nein, - Ostern im öffentlichen Raum findet einfach nicht statt.

Auch wenn mir der Zeitpunkt einer Zeitumstellung nie so recht einleuchten will: In Israel verstand ich die Vollmondphasenorientierung. Hier und jetzt jedoch fehlt mir eine solche Orientierung: Der Himmel ist verhangen und man muss sich seine Wege durch Schneematsch bahnen. Jedoch ist festzuhalten, dass der Beginn der Umstellung auf die Sommerzeit auf den Ostersonntag fällt. Es ist geradezu ein Hohn, ob der Stöhnerei der Einheimischen über den bisherigen strengen Winter, nun von dem, zugegebener Maßen, kalendarischen Beginn des Sommers zu reden; doch heute präsentiert sich das Wetter wenigstens vom Licht her von seiner angenehmen Seite. Das prompte „aber" wird mit Schals und dicken Pullover eskortiert. Denn der (kalte) Wind verfügt über einen großen Anlauf: Die skandinavische Kälte hat die ganze Ostsee von Skandinavien her zur Verfügung, um ungehindert mit ihrer ganzen Mächtigkeit in die Rigaer Bucht hereinzufallen.

An das kurzweilige Schaukeln auf der Osterwippe, - ein weithin üblicher lettischer Osterbrauch -, das mir überraschend erheblichen Muskelkater bereitet, erinnere ich mich gezwungener maßen während meines langweiligen Heimwärts-Schaukelns über die buckeligen Landstraßen im Bus. Stündlich wecken mich meine eingeschlafenen Gliedmaßen, so dass es nicht verwunderlich erscheint, schon gegen vier Uhr morgens über den ersten Aprilscherz und einer dazu geeigneten Person nachgedacht zu haben.