Start | Vorwort | Der Weg, die Spur und ... | KünstlerINNEN | Impressionen
Der Weg, die Spur und der Ton
 

Harald Jegodzienski

< zurück | 1 | 2 | 3 | 4 | 5

Am Ende der diesjährigen Überschrift des Seminars steht unser Material, welches ich nun aber in das Zentrum der Betrachtungen rücken möchte. Es mag zunächst verwundern, dass ich dieses Material „Ton" zu meinem Lehrmeister erkoren habe und es ist legitim zu fragen: Wieso kann dieses amorphe, ungestaltete, also nicht präfabrizierte Material eigentlich uns etwas lehren?

Dieses Material hat eine verführerische Kraft. Solange man mit ihm aktiv arbeiten kann, fordert es unsere Eingriffe wehrlos an. Wie die Tastatur eines Klaviers, hat unser Material Aufforderungscharakter damit etwas zu tun. Dieser Umstand führt nur zu oft zu willfährigem Tonkneten und endet nicht selten „förmlich" in eine Materialverderbnis. Aufgabe ist es, auf diese verführerischen Kräfte hinzuweisen und sie zu überwinden helfen. - Feste Materialien, wie Holz, Stein etc. bieten uns qua ihres Aggregatzustandes Widerstände entgegen. Sie sind nicht gefügig und machen eine genaue Kalkulation zwingend. Im Gegensatz zu den festen Materialien wird man bei der Tonverarbeitung mit einer anderen Form von „Kalkulation" konfrontiert: der Initiierung von Wachstum und Vergehen. Durch die additive und subtraktive Bau-Vorgehensweise mit „Ton" können Gedankengänge formuliert, aber auch innerhalb der Verarbeitung (der Gedanken und des Materials) korrigiert und wieder zerstört, bis zur Auflösung unkenntlich gemacht werden.

Ein ungestalteter Klumpen Ton ist wie ein Satz ohne Interpunktion, - eine Masse, die Reflexion nicht von vornherein in sich birgt. Wir Keramiker müssen Widerstände erst einmal schaffen, sie entdecken, lernen mit ihnen umzugehen und sie wiederum zu überwinden versuchen: die Kraft in der Weichheit aufzuspüren. Bei Experimenten werden zwangsläufig Grenzen überschritten: und das Material antwortet mit Rissen, Verwerfungen, ja Explosionen. Wir nennen diese Phänomene das „Gedächtnis des Tones" an seine Verarbeitung. Man muss einen regelrechten Dialog mit dem Material führen. - Hier wird meine Aufgabe liegen, Euch zu vermitteln, diese Kraft des Materials zu finden, mit ihr zu arbeiten, ohne aber dabei Sklave dieser Um- und Zustände zu werden.

Dieses Material kann unser Bewusstsein und Gefühl aufnehmen. Es fordert uns auf, der Unentschiedenheit des Material-Urzustandes Eindeutigkeit, der amorphen Weichheit Gestalt zu verleihen. Am Ende des Arbeitsvorganges kann also eine Form aus einem Naturprodukt entstehen, die nun eine Art zweite Form und damit die Energie von Natur in sich bergen kann - ohne dabei Natur wiederholen oder kopieren zu wollen. Natur braucht unsere Verbesserungen nicht und eine verkleinerte Kopie einer Vollkommenheit wäre lächerlich. Aber mit diesem Material kann man Prozesse wie in der Natur initiieren und dabei eine Unmittelbarkeit und Selbstverständlichkeit wie bei Naturformen erreichen.

Dazu habe ich die schon erwähnten Spiele entwickelt, um die eigene Tonsprache zu finden, welches ich das bildnerische Alphabet bezeichnen möchte (bildnerisches Alphabet). Zunächst findet man „Buchstaben", also einige Materialproben, die, treibt man es weiter, zu Sätzen gebildet werden können. Schließlich kann es zu Gedichten von „Tonsprachen" kommen. Der Lehrmeister „Material" hilft uns dabei durch seine Prozessprotokollierungen.

Drei „Grammatikbegriffe" unseres Materials möchte ich nun erwähnen, die mir erst relativ spät bewusst wurden: Die Verarbeitung des weichen Materials Ton lässt sich in der Äußerung von Haut und Masse unterscheiden. Die Bearbeitung geschieht mittels Druck, nämlich dem Zusammenspiel von Innen- und Außendruck. Das Material ist sehr empfindlich und empfänglich für die differenzierte Aufnahme unserer Eindrücke, gleich einem Fingerabdruck.

Die Haut ist nicht als Wand zu verstehen, sondern als Membrane, als Reflexion der Kräfte von Innen und Außen, von Konkav und Konvex, gleichsam als Urprinzip von plastischer Äußerung. Als eine wachsende, gestraffte, spannungsreiche Haut über einen gedachten Körper, die Leere, oder schlicht weg über ein Gerüst.

Kurz zum Design: Design legt das Gefühl auf die alles entscheidende Wand. Skulptur im eben beschriebenen Sinne stülpt dagegen die inneren Befindlichkeiten nach außen, zeichnet die Krafteinwirkung in die Form.

Dann die weiche Masse, die entgegengesetzt zu Holz z.B. durch einen Eindruck oder eine Quetschung den ganzen Körper durchdringen lässt, ihn besetzt. - In jeder keramischen Arbeit kann man leibhaftig den Stand der Zwiesprache des/der Autors/ Autorin mit dem Material ablesen. Das Wissen über das Material und der Zugriff auf das Material ist wie ein Text an den Stücken ablesbar. Außer Wachs kann kein Material die eigene plastische Handschrift so direkt und unvermittelt widerspiegeln, wie dieses Erdmaterial. Ton und seine Ausformung ist eine Art „Mirroring", eines Spiegelns, dass keine Einwände zulassen sollte, außer der technischen. Diese Spiegelungen sind wahrhaftig.

Haut und Masse. Weiche Haut und weiche Masse. Die Affinität zum menschlichen Körper, zu dem noch mit dem enormen Wassergehalt und der fast identischen chemischen Zusammensetzung, ist hier unschwer zu erkennen. Was Haut, was weiche Masse hat, ist verletzbar. Wie bei uns Menschen,
sind Schmerz, aber auch Wachstum mit unseren keramischen Arbeiten verbunden. Dass Keramiken selbst nach der Fixierung im Brand verletzbar sind, wird uns spätestens beim abgebrochenen Henkel der alten Teekanne am Frühstückstisch verständlich.

Ausgesuchte
Trümmerteile meines 1.
selbstgesteuerten
Schrühbrandes ...

Das formbare Material „Ton" ist das Verfallsprodukt aller Stoffe unserer Erdkruste - über lange Zeit gewandert und lagernd in der Tiefe unseres Bodens. Der Ton wird durch seine Bearbeitung aktiviert. So dass wir mit seiner Bearbeitung Erinnerungen an die einstigen Stoffe und die Affinitäten zum menschlichen Körper (siehe Schöpfungsgeschichte) unbewusst oder bewusst in unsere Formen mit einarbeiten. Ton kann also qua Material zu einem Bedeutungsträger werden und kann zur Kodierung für Inhalte dienen. So kann das Material nicht nur verführerisch im Umgang mit der Weichheit sein, sondern auch eine Gefahr darstellen, sich in einer Materialmystik zu verlieren. Ich drücke es im Endeffekt natürlich positiv aus: Es liegt in der Formulierung mit diesem Erdmaterial eine sehr große Chance inne, nicht nur die Form, sondern auch Inhalte aufzuspüren. Eine keramische Arbeit ist also eine durch menschliche Arbeit und Feuer im Ofen sublimierte Gestaltung, die Natur, Kunst und die Technik verbindet.

Diese eben beschriebene Chance, qua Material auch Inhalte aufspüren zu können, wird m. E. besonders durch die Ausformung in der Haut-Oberfläche deutlich und unterstrichen. Mit dem Betrachten oder dem Betasten einer keramischen Oberfläche habe ich den Einstieg zum Verständnis des Körpers - gleich einem Duden. Es vermittelt sinnlich erste Signale, erste Einsichten in den Körper, vermittelt Transparenz in die Tiefe, wenn nicht die Haut als Wand oder Abschirmung ausgeprägt ist, sondern als Membrane, ähnlich unserer ureigensten Haut, die von Prozessen gezeichnet ist. Warum soll auch nicht das so für Prozesse empfängliche Material ähnlich reagieren und daher auch selbstverständlich wirken können, wie unsere Haut?

Die keramische Haut, sofern sie nicht geschliffen, poliert, also nicht verdichtet ist, scheint im Gegensatz z.B. zur behandelten Steinoberfläche bereit für den „nächsten Schritt" zu sein. Im übertragenen Sinne, wie bei den altägyptischen Mensch-Reliefdarstellungen: Sie scheinen die Stille zwischen den Bewegungen dokumentieren zu wollen. Das Ankommen und das Weitergehen ist in dieser Ruhe immanent. Keramische Haut scheint die Nähe zum menschlichen Körper besonders inne zu haben, scheint auch im Stadium eines Prozesses involviert zu sein.

Jene Prozesse müssen initiiert werden. Zu diesem Thema werde ich in der Folgezeit einiges Euch zeigen wollen. Zum Zweiten, und das berührt den vorherigen Gedankenabschnitt der Abstraktion, kann das Erd-Material auch auf diesem Feld uns helfen, zu wichtigen Formulierungen zu kommen. Die Stofflichkeit des Materials ist nämlich eine unerschöpfliche Inspirationsquelle auch auf dem Weg hin zur Abstraktion, weil sie die Symbole von Menschsein in sich trägt und auf diesem Weg alle erwähnten Signale dabei mit transportiert. Und ich denke der Kreis schließt sich, wenn Inhalt und Form durch die Präsenz von Materialeigenschaften gegeben ist. - Als exakten Gegenpol dessen, was ich eben festgehalten habe, möchte ich nun zur Diskussion freigegeben: Es gibt jetzt Wettbewerbe für „virtuelle Skulptur" ...

Meist sind die Erwartungen an die eigene Leistungsfähigkeit bei einem Symposium oder einem solchen Seminar sehr hoch gesteckt, - jedenfalls hat sich meist eine besondere Spannung aufgebaut. Deswegen gebe ich Euch am Anfang eines Seminars eine oder mehrere Aufgaben, z.B. als Findungs-Einstieg die Aufspürung des eigenen bildnerisch/technischen Alphabets. Diese spezielle Aufgabe nimmt die letzten Gedanken der Oberflächengestaltung direkt auf und könnte ein „warming up" bedeuten, um in die Projekte starten zu können.

So ähnlich erging es mir, als ich 1995 zu einem Porzellansymposium nach Polen eingeladen wurde. Porzellan, die reinste formbare Erde, war bis zu diesem Zeitpunkt ein mir unbekanntes Material und zudem von mir negativ besetzt. Reflektiert nicht das Porzellan den Spiegelsaal von Versailles? Glänzendes Weiß will dem Auge schmeicheln, lenkt durch seine Reflexion vom Wesentlichen des Körpers ab und verhindert damit zum Wesen der Substanz vorzudringen. (Fixiert ihr einmal mit einem Schraubendreher die Kreuzschlitzschraube im Innenraum eines hochglanzpolierten Edelstahlschränkchens, um diese Schrauben anzuziehen. Es ist nahezu unmöglich. Das generell zum Glanz). Diese strahlende Eintracht von Weiß und Glanz will mächtig sein. Der Goldrand vervollständigt für mich als Krone diesen Gedanken.

Um mich aus dieser inhaltlichen Einbahnstraße herausstrampeln zu können, besann ich mich dieser Aufgabenstellung und spielte sie erstmals auch selber durch. Natürlich näherte ich mich wegen meiner Vorbehalte diesem Material zunächst sehr spitzfingrig, geradezu misstrauisch. Doch durch das Spiel des bildnerisch/ technischen Alphabets, einem Protokoll meiner Findungen m i t diesem mir neuen Material, kam die Diskussion zwischen mir und dem Material in Schwung. Es mündete (typisch deutsch :) in einem Karteikasten-Porzellanobjekt, in dem all meine neuen Erfahrungen registriert, nummeriert und protokolliert wurden. Dies bedeutete tatsächlich der Start in neue Projekte, ja sogar in eine neue Werkgruppe. Die anfängliche Ablehnung diesem „edlen" Material gegenüber wich mit meiner bildnerischen/inhaltlichen Definition des Materials: Nicht die Dünnhäutigkeit und damit die Translution des Scherbens, nicht der Glanz des glasierten Porzellankörpers war mir wichtig, nicht Gold oder das Edle, sonder die Reinheit. Reine Gedanken liebe ich, warum soll das Material dies nicht auch unterstützen können? Zudem war mein Ausweg, dass ich dieses reine Material mit dem Gegenpol, der Kopplung von sogenannten armseligen Materialen konfrontieren konnte, um einen Hauptgedanken stärken zu können. Ich merkte seitdem immer wieder, wie das Porzellan in der Kopplung mit anderen spröden Materialien für mich zu „singen" begann.

Auch wenn ich jetzt in der Gefahr schwebe, ein wenig abzuschweifen, möchte ich in gebotener Kürze erläutern, wie ich zu musikalischen Initiierungen gekommen bin, - das hat nämlich etwas mit der groben Terrakotta-Erde, schließlich mit dem entdeckten Porzellan zu tun.

In einem dunklen, unwirschen Winter , gerade von dem Porzellan-Symposium aus Polen wiedergekommen, stand ich mit Rückenschmerzen in meinem kalten Atelier. Ich stellte, wie damals am „langen Tisch", eine „einfache" Frage: Kann ich nicht, die Leichtigkeit des Porzellanmaterials in Erinnerung, als „Erdmensch" auch (noch leichtere) „Erdtöne" initiieren bzw. provozieren, die ich auch tatsächlich hörend vernehmen kann. Ich wollte Leichtigkeit, Bewegung, Transparenz spürend hören. Und die alte Brautsuche der bildenden Kunst zur Musik war dabei zusätzlich zu spüren und wiederum auch in unserer Sprache zu erkennen: Farbrhythmus, Tonigkeit, Farbklang etc.. Die Sprache an sich erklärt uns vieles, so dass es auch nicht abwegig erscheint, das „Ton" und „Töne" aus einer Symbiose erwachsen sind.

Ich ersann eine Systematik, aus den Erfahrungen mit formbarer Erde erwachsen, die in Strukturpartituren mündeten. Die bildnerischen Motive dazu wurden geradezu ehrfurchtsvoll aus der Realität herausgeschürft, ohne diese zu verletzen, weil ich den Wert und die Ordnung des Einzelelements im Konzert des Ganzen noch nicht begriffen hatte. Erst durch das Studium der gefundenen Sachverhalte, das behutsame Annähern der Sinne befähigte mich, meine eigene (prozessuale) Ordnung und artifizielle Komplexität in der Abstraktion der Bilder zu finden. Dabei war erstaunlich zu entdecken, wie die chaotisch-prozessuale Bearbeitung und das anschließende Ordnungs-Filtern des Wissens der Ursprungsfindung bedarf, um, das gefundene Realitätsdestillat ernst nehmend, die eigene artifizielle Bildwelt formulieren zu können. Und: Je ausgeprägter das Vorbildstudium ist, desto prägnanter ist der eigene Zugriff in der bildnerischen Sprache.

Ich komme zum (ersehnten?) Finale. - Vor 250 Jahren formulierte Herder, ein Weggefährte und Freund Goethes: "Es ist alles schon gebildet worden. Was sollen wir eigentlich noch bilden, etwa Marktstände oder Regenschirme, und wenn ja, aus welchem Grunde?"

Diese Frage beschäftigt besonders die Gruppe der Keramiker, die also das Material in ihrer Berufsbezeichnung hat, mit einer schier unglaublichen Form-Tradition von 20.000 Jahren im Rücken, - der längsten der Menschheitsgeschichte.

Diese Frage berührt natürlich auch jeden, der sich gemüßigt fühlt, etwas bildnerisch zu formulieren, der sich der großen Aufgabe gegenüber sieht, eine eigene Sprache der Formulierung zu finden, um das zu transportieren, war er/sie für richtig und nötig hält.

Allgemein schwingt entsprechend des Herderschen Zitats diese Fragestellung immer im Unterton der Ereignisse einer Epoche mit. Jede Zeit fand aber auch nach Herder ihre Antworten, oder was sie dafür hielt. Die Biennale in Venedig oder die „dokumenta" in Kassel dokumentieren dieses Ansinnen. In dieser heutigen „Sturm- und Drangzeit" einer technischen Revolution, - und wir stehen erst am Anfang einer solchen Epoche -, ist vielleicht wieder ernsthaft zu fragen, ob wir fraglos sind? Ist es berechtigt, wieder die Sinnfrage der künstlerischen Äußerung zu stellen? Momentan ändert sich vieles grundlegend, doch die eigentlichen Grundfragen nicht...

Eine persönliche Einschätzung zum „Kunstwerk an sich", und die sehr holzschnittartig: Ein separates, autarkes Kunstbildnis hat scheinbar ausgedient. Es hat eine zu begrenzte Aussagefähigkeit, auch bei aller Vielfalt und Tiefe, das in ihm stecken sollte. Es scheint mir nun wichtig zu sein, diese Kunstwerke einzubinden in neue Raumkonzeptionen, in neue Denkstrategien und -anlässe. Ein Grund dafür: Jedes Werk auf dem Kunstmarkt wird lt. Erhebung nicht länger betrachtet als nur wenige Minuten. Nun kann man die Formulierung auf schnelle Erfassbarkeit hin formulieren, oder aber es dahingehend gestalten, das man neugierig verweilen möchte, um sich an diesen Widerständen der bildnerischen Angebotsweise zu reiben oder sich gar treiben zu lassen. - Dieser vorher gemeinte Stromlinienförmigkeit der Rezeption sollten Stolpersteine in diese „Gradlinigkeit" eingepflanzt werden, in dem durch eine überraschende Verknüpfung man/ frau neugierig wird, in das Werk einzutauchen, den Strom der Zeit ein wenig vergessend. Es sind Arbeiten, in andere Zusammenhänge eingebunden, die eine Unruhe in der Ruhe wohlmöglich provoziert, um sich darauf einzulassen.

Die Gedankenstränge über Auswahl des zu Bildenden und Bewegungsdarstellungen möchte ich mit einer Geschichten ergänzend abrunden: Ihr habt mehrfach gemerkt, wie die deutsche Sprache überraschende und erklärende Bilder uns offerieren kann. So auch das vorhin gebrauchte Wort „Einklang". Stehe ich mit etwas oder jemanden in Einklang, wähne ich mich in einer großen Übereinstimmung mit dem Gegenüber. Ich befinde mich in einem Klang mit jemandem zweiten, sei es eine Person oder Ding. Entspricht also nicht unsere persönliche Auswahl von Aufmerksamkeit solchen „Einklängen"? Ich denke, dass meine Aufgabe in den Seminaren vielleicht auch darin liegen könnte, Eure Reservoirs an „Klang-Strukturen" zu begreifen und offenzulegen, zu entdecken, damit ihr mit Wissen, also bewusst, zugreifen, begreifen könnt. Dadurch kann Selbst-Bewusstsein entstehen.

Wie kommt es, dass wir von abertausender schöner Steine am Strand die 3 vermeintlich schönsten herausgreifen können, wir eine Lieblingsfarbe unser eigen nennen, einen Lieblingsmaler, -komponisten, -bildhauer, -musiker, -dichter haben, wir aus dem Konglomerat bunter Angebote das „eigentliche" für uns herausgreifen können? Die Reihe der „Lieblinge" ließe sich beliebig fortsetzen. Aus welchem Grund sind wir uns bei dieser Auswahl so sicher, zufrieden im Sinne von Frieden (gleich Ruhe) oder gar glücklich?

Die Antwort auf diese Fragen könnte vor 400 Jahren von Johan Kepler dahin gehend beantwortet und nachgewiesen haben, dass jedes Ding, jede Kreatur und die Natur eine ganz spezifische Schwingung, einen unverwechselbaren Klang besitzt. Er ging soweit zu behaupten: Die Welt ist Klang!

Unsere Sprache hat entsprechende Offerten, „lausch einfach in die Situation hinein" und hör, ob der schon erwähnten „Einklang" stimmig ist: Wenn man im Einklang steht, sich in einem Klang mit dem Gegenüber sich wähnt, ist ein harmonisch zu nennender Zustand entstanden. Wissenschaftler der heutigen Zeit können Stück für Stück „real" die Thesen von Kepler beweisen. So ist die für das menschliche Ohr stille Welt gar nicht so „stumm, wie ein Fisch": Schon seit längerem kann man mittels spezieller Aufnahmetechnik Laute der Fische aufnehmen und seit Sommer 2001 weiß man, dass Würmer laut brüllend ihren Kokon auf heimischen Blatt vor Eindringlingen versuchen abzuwehren etc. etc.

Von einer anderen Seite wird u.a. festgestellt: In der Zeitspanne von nur 7 Sekunden entscheiden sich Menschen, ob sie sich gegenseitig sympathisch oder unsympathisch sind. Wohlgemerkt Menschen, die sich jeweils mit ihren ganzen Erfahrungen, Nöten, Ideen einer großen Lebens-Zeitspanne zum ersten Mal gegenüberstehen. Diese Winzigkeit von 7 Sekunden soll über das weitere Geschick eines Zusammentreffens, einer Begegnung entscheiden? Vielleicht ist es der „eine Klang"?

Zwar „spaziere" ich mit wachsender Begeisterung hörend durch die Welt, doch denkt bitte nicht, ich hörte Klänge einzelner Gegenstände oder Töne gar von Menschen. Wenn aber alle Sinne offen sind, auch für scheinbar Fremdes und Unerklärliches, so kommt es dem sehr nahe, in eine jeweilige Situation „hineinzuhorchen".

Je klarer die Schritte in der Gegenwart mit diesen offenen Sinnen gestaltet werden, ist Zukünftiges gegenwärtig, werden Antworten offeriert, kommen die Aussagen zu mir - es wird dann auch nichts mehr gesucht, es wird gefunden. Tritt man in der größt möglichen Ausprägung der Offenheit und Klarheit der Umwelt gegenüber, umso mehr Antworten hält sie mir auch parat. Es werden vorhandene Energien mit meinen kontaktiert, was man gemeinhin als „Zufall" bezeichnet. Ich bin in diesem Fall im Besitz, was ich als Magma, einen Urstrom an Entscheidungswissen bezeichnen möchte. Ich muss „es" „nur" aktivieren und koppeln mit dem Umfeld. Somit wird qua Voraussetzung eine Harmonie provoziert und gestaltet. Vielleicht ist das wiederum eine Definition von Glück(!?). Man strebt an, nur die Dinge und Angelegenheiten zu tun, die wirklich klar formuliert sind und in den Harmoniekontext seiner Umwelt, sei es Menschen oder Dinge, eingebunden sind. Dazu noch zwei Beobachtungen:

*Ruhe ist die beste Voraussetzung und Startposition, die Dinge zu hören bzw. aufzuspüren.

*Sobald man den Kampf aufgibt, lösen sich Krämpfe und das Eigentliche hat die Chance, sich zu entfalten.

Förderlich für diese Erlebnisse ist es für mich, das Korrektiv der Denkarbeit im Prozess der Begegnung eine Zeitlang in den Hintergrund zu verweisen. Das zuzulassen, was einfach kommt. Aktion und Reaktion aus dem sog. Bauch heraus zu akzeptieren. Die Denkarbeit als Reflexion kann hernach das Unbewusste in das Wissentliche heben. Aus dieser Erkenntnismasse ist der optimale Lerneffekt vorgezeichnet. Auch wenn dabei eigene „Schattenseiten" auftauchen sollten, ist es ratsam dem Prozess zu vertrauen und nicht ängstlich dabei zu werden. Denn ein „Schatten" wird durch solch ein Vorgang beleuchtet und verliert somit seine Schärfe und Kontur, schließlich beherrscht das Licht
die Szenerie. Bei dieser Art der Vorgehensweise ist man Akteur durch Initiierungen und ist doch auch gleichzeitig Zuschauer der anschließenden Prozesse und damit der Gestaltung; zusätzlich bekomme ich ein differenzierten Bericht meinerselbst.

Vor der Gestaltung von Dingen war es für mich unerlässlich, die Natur zu studieren, mit dem Naturmaterial Ton diese Energien aufzuspüren, die der Natur entsprechen. Was meint, dass sie selbstverständlich dasteht, also sich selbst versteht, - durchlaufen durch viele Prozesse und dadurch eine Klarheit gewinnt. Sie weisen wachsende Strukturen eines Organismus auf.

Die Ästhetik eins
Busunglücks

Das können a u c h Fotos von Katastrophen sein. Die Natur, das Leben, aber auch der Tod, das Chaos weisen diese Energien auf. Damit soll der Hinweis gestattet sein, wie nah die beiden so gegensätzlichen Pole doch sind und alles in unserem Leben auf diese Dipoligkeit aufgebaut ist. - Vielleicht ist lediglich zu konstatieren: Unsere Arbeit besteht darin, mit dem eigenen Ordnungssinn (auch des Hörens) im oben erwähnten Sinn das Chaos, das Vielfältige unserer bunten Umwelt zu ermessen und zu bewältigen lernen, indem man gestaltet, etwas zu einer Gestalt verhilft. - Es geht also um den Transfer des Verstehens der Welt durch das eigene Selbstverständnis, der Transformationen mit Hilfe von Materie und gerichtetem Spiel. Meine Zauberwörter sind also „Verknüpfung" und „Spiel". Ich habe erfahren, dass durch Nähen oder gar Kreuzungen gegensätzlicher Energien, neue Werte von Begegnungen geschaffen werden können, vieles auch erst dadurch bewusst wird. Und meist entsteht etwas sehr Überraschendes durch solche „Konfrontationen". Also „Spiel" als ersten Schritt in die neu gestaltete Wirklichkeit zu verstehen, sich einzulassen auf etwas Ungewissem.

Was aber spielt man und mit welcher Spielregel? Ein Spiel bedarf der Regeln, um auch aus den Resultaten lernen zu können. Ich nenne es, durch Ahnungen und Erfahrungen des vorher Erlebten geleitet, das gerichtete Spiel. Und wenn dies nicht gleich zu den erwarteten Ergebnissen führt, sollte man sich vor Augen halten, dass der Schaffensprozess von größerer Bedeutung ist als das Erschaffene.

Zum Thema „Resultat" und „Zeit": Momentan wird uns in jedem gesellschaftlichen Bereich die „kurz, schnell und chick"-Ästhetik z.B. der Videoclips angeboten. Schnellfertig mal aufs Trittbrett eines gut laufenden Zuges aufspringen, - das war´s, um anschließend aufzuspüren, wo sich die nächst folgende Gelegenheit bietet, am Erfolgskuchen schnell fertig partizipieren zu können. Dabei herrscht die ganz eigenartige Atmosphäre einer Bahnhofswartehalle mit der Ausstrahlung von gleichzeitiger Ruhe und Lampenfieber. Man hat alles im Griff und nennt diesen Zustand vielleicht „cool in action". - Zu solch einer „kurz, schnell und chick"-Offerte an die Fernsehanstalten kommt übrigens eine Universitätsstudie, um die Zuschauerquoten von Kultursendungen von ihrem Sturz in die Tiefe aufhalten, bzw. steigern zu können.

Natürlich ist meine Position eine völlig andere: Was man ehrlich zu sich selbst, Ahnenderweise ergreift, bündelt sich trichterförmig m i t der Zeit im Fundus des Erfahrungswissens, zunächst diffus und aufregend, weil man es nicht recht begriffen und benennen konnte. Das kann aber in das Begreifen und Bewusstsein einmünden und zudem zur Erkenntnis führen, dass zum Erfahrungswissen auch anzueignendes Wissen sich gesellen kann/ muss. Eine Faktenwissens-Anhäufung darf jedoch nicht zur Versperrung von Wegen führen. - Eingrenzend ohne Grenzen - . In der Begrenzung eines Beobachtungs- und Tätigkeitsfeldes liegt die größt mögliche Freiheit, und nebenbei wegen der Überschaubarkeit, auch die Möglichkeit zum besten Erfolg.

Ein weiterer Weg der Aufnahme von Informationen: Der Film „Metropolis" von Fritz Lang wird dem einen oder anderem bekannt sein. Die Bilder dieses Filmes konnten nur entstehen, weil sie die Visionen von Wissenschaftlern seiner Zeit transportierte und mit einer interdisziplinären Verknüpfung das Hineinhorchen in die Zukunft ermöglichte. - Sich auseinander zusetzen mit Gedanken kluger Köpfe ist ein besonderes Abenteuer, um zu erfahren, was sich anschließend in dem persönlichen Trichter sich als kompatibles Gewicht entpuppt. Das Motto Auguste Comtes, Begründer des Positivismus, „Wissen, um vorauszusehen, - vorauszusehen, um zu verhindern", sollte man dahingehend umschreiben: Vorauszusehen, um zu gestalten!

Weit vor Joseph Beuys formulierte Carl-Henning Pedersen von der Gruppe „Cobra", dass alle Menschen Künstler sind. Wer Künstler ist, oder nicht, das sollen andere entscheiden. Kunst hat aber etwas mit Reflexion von Kunst zu tun, sonst wären die berühmten „Affenbilder" tatsächlich Kunst. Jedes Bild oder jede Skulptur verlangt nach sprachlicher Verständigung. Deswegen bin ich mir auch sicher, dass wir in der kommenden Zeit uns über Eure Arbeiten verständigen können, um neue oder/und vertiefende Ansätze von Formulierungen finden zu können.

Ein solches Seminar kann demnach bedeuten, frei zu sein von den Alltagsanforderungen, Konzentration auf Ahnungen und Wissen, fächerübergreifende Formulierungen, die eigenen Stärken zu finden, in Kommunikation mit bisher unbekannten Menschen und Räumen zu treten, auf die neuen oder andersartigen Materialien neugierig zu sein, sich zu reiben, Fragen zu stellen, Fragen zu hören - das heißt Werkstattversuche und -untersuchungen in zeitlicher Dichte und Felduntersuchungen in der Gruppe. Ich wünsche Euch einen freien Zugang zu diesem Erdmaterial, - dass ihr Euch aus den Pflichten herausschaufelt und Eure Kür zeichnen oder Verknüpfungen mit anderen Denkansichten oder Materialien ziehen könnt. Ich wünsche Euch kein Suchen, - sondern Findungen und Erfindungen

Erzähle mir
und ich
vergesse.
Zeige mir
und ich
erinnere.
Lasse es mich
tun

und ich
verstehe ...

Konfuzius

< zurück | 1 | 2 | 3 | 4 | 5