Geschichten
von Symposien

Harald Jegodzienski
Orts-Bestimmungen

Kunst-Symposium
Rîga/Zvârtava
September 2005

Man stelle sich vor, in Riga mit dem Flugzeug mitternächtlich einzu- schweben und wird direkt danach in die unmittelbare Nachbarschaft der russisch-estnischen Grenze in ein Schloss verschlagen. - Sein Umfeld ist am besten damit zu beschreiben, dass drei Kälber auf dem knapp 5 km langen Fußweg zur nächsten Ansammlung einiger Häuser der offen-sichtliche Beweis von Lebendigkeit dieses Landstriches darstellen. Mal bellt entfernt ein Hund, kräht ein Hahn. Härtetest für alle Stadtkinder. Und wie reagieren die KünstlerINNEN auf diese Situation?

Zwei gelbe Sterne der Europaflagge im Schloss-Eingangsbereich werden zur Zeit von 11 KünstlerINNEN hochgehalten: Aus den Partnerstädten Bremen Barbara Deutschmann, Sandra Kuhne, Werner Kuhrmann, Oliver Voigt und Johann Behrends und Rîga Diana Dimza-Dimme, Silvija Meðkone, Agnese Bule, Patricija Bretke und Harald Jegodzienski, angereichert mit anderen Sternen aus Kirgisien - Alexej Bogdanow - und aus New York - Gagik Alumian .

Wir halten also wenigstens 3 Sterne selbstbewusst hoch, wie die grüne Dame des Freiheitsmonuments in Riga. Hier in Zvârtava allerdings erhält diese Geste aber mehr den Charakter des Jonglierens.

Zu diesem Bild gesellt sich wie selbstverständlich die Theaterkulisse des neu-gotischen Schlosses, in dem wir für 10 Tage vom Künstlerbund Lettlands eingeladen wurden. Fragen nach Authentizität von Gebäude und Situation stellen sich ein. Was schon mit einer Spielart an Baustil begann, wurde mit erheblicher Formfreude nach 100 Jahren fortgesetzt: Generationen von Künstlern haben Hand angelegt, dass marode gewordene Gemäuer wieder hoffähig zu machen. Und unsere Situation? Sie könnte man mit der Überschrift „Ortsbestimmungen“ zusammenfassen. Meint, Stimmungen und Stimmen der Orte und Menschen wahrzunehmen, aufzuzeichnen, zu verarbeiten, transkribieren, übersetzen. Und, - was ein Symposium ausmacht -, mit geschätzten Kollegen und Kolleginnen auf Zeit zusammenzuleben, auf die bildnerischen und Lebenspositionen des jeweiligen Anderen zuzugehen und verstehen lernen.

Die Idylle präsentiert sich also von der besten Seite, bestrahlt vom herbstlichem Sonnenschein. Das komfortable „Klosterleben“ erfährt zudem einen erheblichen Zugewinn durch die Kochkünste Zinas, die uns mit der gesamten Spielart lettischer Kochweisen vertraut macht.

Was soll nun also in solch einer Situation zur künstlerischen Verarbeitung in die Mischmaschine aus Gefühlen, Wissen und Erfahrungen aufgegriffen und der Reflektion zugeführt werden?

Im Schlosspark ragt eine Skulptur in das Tiefblau des Himmels, ein Wegweiser, der seine Arme in alle Richtungen ausbreitet. So nehmen sich auch unsere Arbeits- und Herangehensweisen und Reaktionen aus:

Im Oktogon der Schloß-Eingangshalle werden wir durch eine Installation von Johann überrascht: Aus gespaltetem Puppenkopf rieselt Wasser über halbgeöffnetem Kindermund. Olivers Ortsbestimmung in Form von Postkartenbearbeitungen stellt sich anfänglich als sehr begrenzt dar: Lediglich eine Ansichtskarte ist am Schalter der Provinzpoststelle erhältlich. Neben geschnitzten Himmelbetten werden Notebooks aufgeklappt, Fotos verwaltet und bearbeitet (Sandra, Barbara). Werner jongliert mit und feilt an Worten, schreibt und beschreibt seine Eindrücke. Es wird zudem gezeichnet (Alexej), gemalt (Silvija, Diana, Agnese, Patricija, Harald), es wird gestanzt und geschraubt. Doch neben all diesen Bearbeitungen stellt sich nach einer Woche kollektiv eine Sehnsucht ein: „Wann tauchen wir in Rîga ein?“ Hier liegt anscheinend die Chance, dass Fremdartige aufzuspüren: Von Platten- und Hochhaussiedlungen begrenzte Spielplätze, orthodoxe Pracht und Inniglichkeit, hölzerne Vororthäuser in unmittelbarer Nachbarschaft zu Jugendstil-Stadthäusern, lettisch-russisches Mit- und Gegeneinander u.v.a.m. Das heißt, Kontraste aus dem gewohnten Alltag herauszufiltern, um die jeweiligen Situationen und Positionen klar(er) betrachten zu können.

Ein langer schmaler Steg führt unterhalb des Zvârtava-Schlosses zum See. Er verbindet festen Boden mit klarem Wasser, - im Zwischenbereich eine unwirtlich-morastige Zone, die überbrückt werden muss. Ein schönes Bild, was sich hier für unsere Situation als Vergleich von Erkundung einer neuen Wegstrecke anbietet, zumal der Passant durch zu dünne Planken und verwitterte Pfosten zum genauen Hinschauen und bewussten Gehen über dieses unsichere, unvertraute Terrain gezwungen wird.

Zwei Umstände werden schnell klar: Unsere gemeinsame Symposiums-Zeit reicht bei weitem nicht für unsere Reflektionen aus und zudem: Eine Welle symbolisiert nicht die Kraft eines Meeres. Erst die nachfolgenden Wellen werden diese erst beweisen können. In diesem Sinne freuen wir uns jetzt schon auf ein Wiedersehen, um die jetzt nachfolgenden Ausarbeitungen in den Ateliers miteinander schließlich in einer Ausstellung präsentieren zu können – über alle Grenzen hinweg!